Corona spielt der Sucht in die Hände
Quelle: NEUE am Sonntag, 19.4.2020 - Primar Philipp Kloimstein, Leiter der Suchtklinik Maria Ebene, im Interview mit Georg Widerin
Die Telefone laufen derzeit heiß. „Das hat einerseits mit der besonderen Situation zu tun. Andererseits haben wir die ganze ambulante Versorgung auf Telefonbetrieb umgestellt“, erzählt Philipp Kloimstein, der neue medizinische Leiter der Stiftung Maria Ebene. Viele Menschen sind derzeit zu Hause. Manche davon einsam, verunsichert, arbeitslos oder in Kurzarbeit. Man hat Zeit zum Nachdenken. Über sich oder über die Zukunft. Das schürt Ängste und Unsicherheit. „Sucht ist in dem Fall immer Flucht oder Kompensation. Konkrete Zahlen zur derzeitigen Lage haben wir noch nicht“, führt Kloimstein weiter aus. Aber man sehe derzeit deutlich eine Zunahme von Kontaktaufnahmen. Auch stationär im Haus selbst bemerke er, dass es vermehrt Menschen gibt, die mit ihren bekannten Suchproblemen zu kämpfen haben. Vor allem durch die fehlende Perspektive scheinen manche Probleme größer als je zuvor. Denn es wisse ja derzeit niemand, wohin die Reise gehen wird. Das verunsichere vor allem Menschen, die gegen eine Sucht ankämpfen. „Das sehen wir vor allem an den Rückfällen, die stationäre Hilfe beanspruchen, weil sie es allein zu Hause nicht mehr schaffen.“
Platzmangel gibt es derzeit nicht. Dafür hat man schon im Vorfeld gesorgt. „Wir haben generell viele Plätze für Corona freigehalten, weil wir ja als Notspital für Rankweil im Einsatz sind“, so Kloimstein. Seit dem 30. März steht das Krankenhaus als sogenanntes psychiatrisches Notkrankenhaus für ausgewählte Fälle der Psychiatrie Rankweil bereit. Dadurch werden in Rankweil Kapazitäten für eventuelle Covid-19-Patienten geschaffen. Insgesamt stehen am Krankenhaus Maria Ebene derzeit rund 50 Betten zur Verfügung. Pro Tag können bis zu zehn Patienten aufgenommen werden.
Häufig Schmerzmittel. Beim Thema Sucht geht es natürlich nicht nur um Alkohol. Aber man muss bei jeder Art von Sucht genau hinschauen, wie das Konsummuster aussieht. „Wir nehmen irgendwelche Substanzen, weil sie eine schnelle Emotionsregulierung bieten, den Frust oder die Sorgen für einen Moment ausblenden“, erklärt Kloimstein. Das gilt in letzter Zeit auch vor allem für Schmerzmittel wie Opiaten oder Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine. Da komme es immer wieder zu gehäuften Einnahmen und zu kritischen Konsummustern.
„Wir haben unlängst einen Patienten bekommen, der ist einige Tage zuvor mit über vier Promille in einem Krankenhaus akutmedizinisch versorgt worden. Nach ein paar Tagen wurde er dann zu uns überstellt. Das ist nicht alltäglich und akut lebensgefährdend.“ Im Vergleich dazu: „Amy Winehouse hatte in etwa 4,18 Promille. Und wie diese Geschichte ausgegangen ist, wissen wir alle.“
Die aktuellen Arbeitslosenzahlen haben sich mehr als verdoppelt, und das in kürzester Zeit. „Da wird noch einiges auf uns zukommen. Denn viele Menschen brauchen eine gewisse Orientierung und einen Halt“, führt Kloimstein weiter aus. Arbeit ist für viele ein wichtiger, sinnstiftender Faktor. Und wenn man die verliert und deshalb Sorgen und Ängs te entwickelt, ist der Griff zum Alkohol oder zu einer anderen Droge manchmal naheliegend: „Das geht halt auch leichter und schneller, als fünf Stunden Meditation, Yoga oder andere Entspannungstaktiken zu praktizieren.“
Gesellschaftsdroge Alkohol. Auch der Mischkonsum von Drogen ist in Zeiten wie diesen ein massives Problem. Wenn man den ganzen Tag zu Hause sitzt, verliert man mitunter auch den Überblick, was man konsumiert. Das gilt für das Essen und Trinken, aber eben auch für andere Substanzen. Mitunter auch verbotene: „Die Frage stellt sich natürlich schon: Wie funktioniert derzeit die Versorgung mit illegalen Drogen“, ergänzt Kloimstein.
Da fehlen in Vorarlberg noch gänzlich die Zahlen. Aber die Grenzschließungen werden sich früher oder später bemerkbar machen. „Ich höre von deutschen Kollegen, dass die Leute gar nicht mehr zu ihren Dealern kommen, weil das in diesen Zeiten natürlich schwierig ist. Wenn sich mehrere Menschen irgendwo verabreden oder treffen, fällt das mehr auf als sonst.“ Den Straßenverkauf gibt es so derzeit in viel geringerem Maße. Und auch das kann für stark Süchtige gefährlich werden, denn kalte Entzüge können mitunter auch lebensbedrohlich sein.
Beim Alkohol wiederum sei viel Selbstbetrug im Spiel, erläutert der Primar. Zudem ist er gesellschaftlich toleriert, aber in unseren Breitengraden immer noch die Droge Nummer eins. Die wenigsten geben ehrlich zu, dass sie ein Problem mit Alkohol haben. „Problematisch wird es immer dann, wenn der Alkohol eine Funktion bekommt“, führt Kloimstein aus, „wenn man sich sagt: Ich möchte gut schlafen und deswegen gönne ich mir ein paar Achtel. Oder ich brauch das, damit ich generell runterkomme, meine Sorgen, meine Ängste loswerde. Dann bin ich schon in Richtung Sucht unterwegs. Auch wenn mir das noch gar nicht so bewusst ist.“
Hilfe suchen. Generell rät Primar Kloimstein, sobald man bemerkt, dass ein Suchtverhalten in einem problematischen Bereich abgleitet, sollte man Kontakt und Beratung suchen: „Wir schauen dann primär, wie akut die Situation ist. Und wenn wirklich eine massive Notlage besteht, wird man sicher eine Krisenintervention in Betracht ziehen.“ Wichtig dabei ist natürlich immer die Motivation des Einzelnen. Aber sobald man einen persönlichen Kontakt hergestellt habe, sei der erste und wichtigste Schritt schon getan: „Wenn jemand aktiv zum Telefon greift und anruft, dann können wir immer was anbieten. Das kann eine erste Beratung oder eine stationäre Behandlung sein.“ Und bei bekannten Patienten, könne man natürlich auch mit einer gezielten Medikation gegensteuern. Gerade im Angstbereich gibt es diverse Möglichkeiten. Antidepressiva oder neuroleptische Medikamente, würden sich da anbieten.
„Das Thema wird uns leider noch länger beschäftigen und begleiten, genaue Prognosen wären unseriös“, so Kloimstein. Er hoffe, dass es nicht massiv und langfristig zu einer Zunahme von Suchtpatienten kommt. Aber: „Die derzeitige Situation spielt Süchten aller Art massiv in die Hände.“